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NACHRICHTEN

und Berichte


15.11.24 | “Zwischen Wut und Aufbruch”

Ein Gespräch über die neue politische Kultur in Ostdeutschland

Bis auf den letzten Platz gefüllt war der Rathaussaal Birkenwerder: Die Friedrich-Ebert-Stiftung hatte unter dem Titel „Zwischen Wut und Aufbruch“ zum Gespräch über die neue politische Kultur in Ostdeutschland eingeladen. 

Klaus-Jürgen Scherer, Mitglied des Vorstands der Hochschulinitiative Demokratischer Sozialismus, formulierte nach der Begrüßung durch den Leiter des Brandenburger FES-Landesbüros Gedanken für die nachfolgende Diskussion auf dem Podium und mit den Besuchern: Noch nie waren Rechtsextreme in so großer Anzahl in Parlamenten vertreten: Woher kommt die große Wut, die die politische Auseinandersetzung so schwierig macht? Wie ist der Erfolg des BSW zu erklären, das keine traditionelle Partei sein will, dessen Namensgeberin bisher aber nicht klar erkennen lässt, wohin sie eigentlich will?

Moderatorin Katharina Gerlach wandte sich zunächst mit der Frage an Dr. Benjamin Grimm, wie er es unter den gegebenen Umständen geschafft habe, mit beeindruckenden 37 Prozent den Landtagswahlkreis Birkenwerder, Glienicke/Nordbahn, Hohen Neuendorf, Mühlenbecker Land für die SPD zu gewinnen und welche Erfahrungen er mit der politischen Kultur im Lande mache. 

Der Ton im Landtag habe sich mit dem Erstarken der AfD bereits vor fünf Jahren deutlich verändert, antwortete Grimm. „Bei den Anwürfen, die man von denen zu hören bekommt, fragt man sich manchmal, ob man wirklich im Parlament ist oder in einer Kneipe.“ Bei den unzähligen Haustürbesuchen, ausschlaggebend für seinen erfolgreichen Wahlkampf, sei er nicht ein einziges Mal beleidigt worden, wohl aber werde Ablehnung mitunter sehr direkt und durchaus unfreundlich artikuliert: „Hau ab!“ Soweit Frust begründet werde, sei vor allem die Angst vor sozialem Abstieg erkennbar, die Furcht, das Land werde vor die Wand gefahren. Dabei sei weniger die Landespolitik gemeint als die Bundesregierung. In Bezug auf Krieg und Frieden gebe es oft Äußerungen parallel zum BSW. Allgemein fand er die in Studien eruierte Einstellung bestätigt: Demokratie grundsätzlich „ja“ – aber sie funktioniere derzeit nicht gut.

Politikwissenschaftler Prof. Dr. Hajo Funke unterstrich, angesichts weiter gestiegener Zustimmung zur AfD in Thüringen – inzwischen 34 Prozent – müsse die Brandmauer bestehen bleiben, denn die rechtsradikale deutsche „Alternative“ mit ihrem völkisch-nationalistischen Machtzentrum um Höcke und Kubitschek sei extremer als Le Pen in Frankreich oder Meloni in Italien.

Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident von 1998 bis 2005 (und anschließend bis 2013 Vizepräsident), betrachtet die Ergebnisse der Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern als tiefen Einschnitt wie nie zuvor nach 1945. Oft heiße es, die Menschen würden „nur aus Protest oder Unmut“ AfD wählen, aber er sei sich sicher, die Wähler wüssten genau, was sie mit ihrer Stimmabgabe bewirken. In Bezug auf die „Abgehängten“ sei klar, die seien nur wiederzugewinnen, wenn tatsächliche ökonomische Probleme offen angesprochen und gelöst würden. Auf die Bemerkung des Regisseurs Frank Castorf, der AfD-Aufstieg sei die „Rache des Ostens“, könne er nur mit der Frage antworten: „An wem denn?“ Richtig sei allerdings die Feststellung des Soziologen Steffen Mau: Der Osten ist und bleibt anders! Das gelte in Bezug auf Arbeitseinkommen, Rente, Vermögen. Das Paradoxe sei, wenn trotz aller finsteren apokalyptischen Aussagen 70 bis 80 Prozent der Verunsicherten bekennen: Mir persönlich geht’s gut.

Die Moderatorin bemühte sich redlich um Schlussfolgerungen der „Podianten“, aber auch der rege beteiligten Besucher im Rathaussaal in Bezug auf den zukunftsbezogenen Aspekt der Veranstaltung: „Aufbruch“. Das sei in der Tat schwierig, meinte Thierse, denn in der DDR habe es keine zivilgesellschaftliche Kultur gegeben, vielmehr wurde die Erwartung, der Staat werde alles richten, nach der Wende in die neue Gesellschaftsordnung übertragen: Hoffnung richtet sich auf die da oben – aus dem Westen! Das sei die Fatalität ostdeutscher Mentalität, sich immer am Westen zu orientieren. Den Gedanken nahm auch eine Besucherin auf und forderte, die Menschen müssten vor Ort den Eindruck gewinnen: „Wir können mitmachen!“ Grimm ergänzte, diese grunddemokratische Haltung müsse auch in die Schulen stärker eingebracht werden. Damit meine er nicht Parteipolitik, sondern das Ansprechen und Diskutieren von gesellschaftlichen Problemen und Lösungsvorschlägen.

Nach Thierses Aufforderung, man dürfe nicht den immer auch schmerzhaften technologischen Wandel, die Transformation der Energieversorgung und die Unterstützung der Ukraine gegen die Sicherung des Sozialstaates ausspielen, bedankte sich die Moderatorin für den anregenden Gesprächsabend, der in kleineren Runden mit Wein und Brezeln noch eine Stunde lang fortgesetzt wurde.

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